Borderline-Persönlichkeit
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist eine tiefgreifende Störung der Emotionsregulation, Impulssteuerung und zwischenmenschlichen Beziehungsgestaltung. Sie gehört zur Gruppe der Persönlichkeitsstörungen und ist gekennzeichnet durch Instabilität in Selbstbild, Gefühlen, Verhalten und sozialen Beziehungen. Die Betroffenen erleben häufig intensive emotionale Schwankungen, chronische innere Leere und ein starkes Verlassenheitsgefühl.
Begriff und Klassifikation
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung wird im DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) sowie in der ICD-10 der WHO unter den emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen geführt. Die Bezeichnung Borderline ("Grenzlinie“) stammt historisch aus einer Zeit, in der die Störung als Grenzbereich zwischen Neurose und Psychose verstanden wurde – heute ist dieser Begriff klinisch überholt, hat sich jedoch als Name etabliert.
Laut ICD-10 umfasst die Borderline-Störung eine spezifische Unterform der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom "impulsiven Typ“.
Leitsymptome und Diagnosekriterien
Zur Diagnostik der BPS müssen nach DSM-5 mindestens fünf der folgenden Merkmale überdauernd bestehen:
Hauptmerkmale der Borderline-Persönlichkeitsstörung
- Intensive Angst vor dem Verlassenwerden – reale oder eingebildete Trennung wird als bedrohlich erlebt.
- Instabile, intensive zwischenmenschliche Beziehungen mit Idealisierung und Abwertung.
- Identitätsstörung – instabiles Selbstbild oder Gefühl für das eigene Ich.
- Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (z. B. Geldausgaben, Drogen, Essanfälle).
- Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstverletzungen oder Androhungen.
- Affektive Instabilität – starke Stimmungsschwankungen mit ausgeprägter Reizbarkeit oder Dysphorie.
- Chronisches Gefühl der Leere.
- Unkontrollierte Wut oder Schwierigkeiten, Wut zu kontrollieren.
- Vorübergehende paranoide Vorstellungen oder dissoziative Symptome in Stresssituationen.
Die Störung tritt typischerweise im frühen Erwachsenenalter auf, zeigt sich jedoch bereits in der Adoleszenz in ersten Auffälligkeiten.
Ursachen und Entstehungsmodelle
Die Entstehung der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist komplex und multifaktoriell. Es besteht weitgehender Konsens darüber, dass sowohl biologische, psychologische als auch soziale Faktoren beteiligt sind – im Sinne des biopsychosozialen Modells.
Biologische Faktoren
- Dysfunktionale Neurotransmittersysteme (v. a. Serotonin, Dopamin)
- Strukturelle und funktionelle Veränderungen in Amygdala, Hippocampus und präfrontalem Kortex
- Genetische Vulnerabilität
Psychologische Faktoren
- Defizite in Emotionsregulation und Impulskontrolle
- Störungen im Aufbau eines stabilen Selbstbildes
- Geringe Frustrationstoleranz, Schwarz-Weiß-Denken
Soziale/traumatische Einflüsse
- Frühkindliche Traumatisierungen (z. B. Vernachlässigung, Missbrauch, Trennungen)
- Instabile oder unsichere Bindungserfahrungen
- Chronische emotionale Invalidierung (z. B. Gefühle wurden ignoriert, abgewertet oder verboten)
Besonders die Biosoziale Theorie von Marsha Linehan (Begründerin der Dialektisch-Behavioralen Therapie) betont die Wechselwirkung zwischen biologischer Empfindsamkeit und einem invalidierenden Umfeld als Ursprung der BPS.
Erleben und Verhalten der Betroffenen
Die subjektive Erlebniswelt von Menschen mit Borderline-Störung ist geprägt durch:
- Extreme emotionale Schwankungen, oft ohne erkennbaren äußeren Anlass
- Intensives Erleben von Nähe und Ablehnung – das sogenannte "Splitting“ (Idealisierung vs. Abwertung)
- Schwierigkeit, stabile Beziehungen aufrechtzuerhalten
- Starke Impulsivität mit destruktivem Verhalten (z. B. Selbstverletzung, Drogenkonsum)
- Gefühl innerer Leere, Langeweile, Identitätslosigkeit
- Angst vor Alleinsein, oft verbunden mit klammerndem Verhalten
- Selbstverletzendes Verhalten zur Emotionsregulation
- Dissoziative Zustände (z. B. Entfremdung vom Körper, Erinnerungsverlust) in akuten Belastungssituationen
Viele Betroffene haben ein ambivalentes Verhältnis zur Therapie: Einerseits wird Hilfe gesucht, andererseits führen Misstrauen, emotionale Schwankungen oder Beziehungskonflikte zu Abbrüchen.
Komorbiditäten
Die BPS tritt häufig gemeinsam mit anderen psychischen Erkrankungen auf:
- Affektive Störungen (v. a. Depression, bipolare Störung)
- Angststörungen (v. a. soziale Phobie, Panikstörung, PTBS)
- Substanzmissbrauch
- Essstörungen (z. B. Bulimie, Binge-Eating)
- ADHS im Erwachsenenalter
- Dissoziative Störungen
- Andere Persönlichkeitsstörungen
Komorbiditäten erschweren Diagnose, Prognose und Behandlung – machen interdisziplinäre Betreuung jedoch umso wichtiger.
Diagnostik und Differenzialdiagnose
Die Diagnose erfolgt auf Basis klinischer Interviews, Anamnesegespräche und standardisierter Fragebögen wie:
- SCID-II (Strukturiertes Klinisches Interview für Persönlichkeitsstörungen)
- Borderline-Symptom-Liste (BSL-23)
- IPDE (International Personality Disorder Examination)
Wichtig ist die Abgrenzung zu:
- Bipolaren Störungen (zyklische, nicht situationsabhängige Stimmungsschwankungen)
- Schizotypischer oder schizoider Persönlichkeitsstörung (fehlende emotionale Bindung)
- Komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (häufig überlappend)
Therapie und Behandlungsmöglichkeiten
Trotz des schweren und langwierigen Verlaufs ist die Borderline-Störung behandelbar. Heute stehen mehrere evidenzbasierte Therapieansätze zur Verfügung:
Wirksame therapeutische Verfahren
- Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT)
- von Marsha Linehan entwickelt
- Kombination aus Verhaltenstherapie, Achtsamkeit und Akzeptanz
- Module: Emotionsregulation, Stresstoleranz, zwischenmenschliche Fertigkeiten, Selbstwert
- Schematherapie (Young)
- Arbeit mit dysfunktionalen Schemata und inneren Anteilen
- Integration von kognitiven, psychodynamischen und verhaltenstherapeutischen Elementen
- Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT)
- Förderung der Fähigkeit, eigene und fremde Emotionen als mentale Zustände zu erkennen
- Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP)
- psychodynamischer Ansatz mit Fokus auf Beziehungsmuster in der therapeutischen Interaktion
- Gruppentherapien und Skills-Trainings
- z. B. nach dem DBT-Konzept, zur Erarbeitung praktischer Fertigkeiten
Ergänzend können Medikamente zur Behandlung komorbider Symptome (z. B. Depression, Angst, Impulsivität) eingesetzt werden – jedoch nicht als Primärtherapie.
Langzeitverlauf und Prognose
Der Verlauf der Borderline-Störung ist individuell unterschiedlich. Viele Betroffene zeigen im mittleren Erwachsenenalter eine Besserung der Impulsivität und emotionalen Instabilität, während interpersonelle Probleme persistieren können.
Studien zeigen:
- ca. 80 % der Betroffenen sind 10 Jahre nach Therapiebeginn symptomatisch deutlich stabiler
- vollständige Remission ist möglich, aber selten kurzfristig erreichbar
- Rückfälle sind häufig, aber meist vorübergehend
Ein unterstützendes Umfeld, tragfähige therapeutische Beziehung und individuell passende Therapie sind entscheidende Erfolgsfaktoren.
Fazit: Leben am Rand – mit Hoffnung zur Mitte
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine tiefgreifende und leidvolle psychische Problematik – geprägt von intensiven Gefühlen, instabilen Beziehungen und der Suche nach Halt. Doch sie ist nicht unveränderlich.
Mit Geduld, professioneller Unterstützung und therapeutischer Begleitung können Betroffene lernen, ihre Emotionen besser zu verstehen, stabile Beziehungen aufzubauen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen – nicht jenseits, sondern innerhalb ihrer Grenzen.