Charakterstärken

Charakterstärken sind positive, moralisch geschätzte Eigenschaften des Menschen, die in Denken, Fühlen und Handeln zum Ausdruck kommen. Sie gelten in der Positiven Psychologie als grundlegende Bausteine eines gelingenden Lebens und sind eng mit Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit, Resilienz und persönlicher Entwicklung verbunden. Charakterstärken lassen sich kultivieren, fördern und gezielt einsetzen – sowohl im persönlichen als auch im gesellschaftlichen Kontext.
Ursprung und wissenschaftlicher Hintergrund
Das Konzept der Charakterstärken wurde maßgeblich von Christopher Peterson und Martin Seligman im Rahmen der Positiven Psychologie entwickelt. Ihr Ziel war es, ein wissenschaftlich fundiertes Gegenstück zu psychischen Störungen zu schaffen – eine systematische Beschreibung dessen, "was am Menschen gut ist".
2004 veröffentlichten sie das Handbuch "Character Strengths and Virtues", das 24 universelle Charakterstärken in sechs übergeordneten Tugendkategorien beschreibt. Diese Klassifikation, bekannt als VIA-Modell (Values in Action), basiert auf kulturübergreifenden Studien, philosophischen und religiösen Texten sowie empirischen Untersuchungen.
Die sechs Tugenden und 24 Charakterstärken
Die Charakterstärken sind spezifische Ausdrucksformen von übergeordneten Tugenden, die in nahezu allen Kulturen geschätzt werden.
Übersicht der Tugenden und zugehörigen Stärken
1. Weisheit und Wissen
- Kreativität
- Neugier
- Urteilsvermögen
- Liebe zum Lernen
- Weitsicht
2. Mut
- Tapferkeit
- Ausdauer
- Ehrlichkeit
- Enthusiasmus
3. Humanität
- Freundlichkeit
- Soziales Verantwortungsgefühl
- Fähigkeit zur Liebe
4. Gerechtigkeit
- Fairness
- Führungsvermögen
- Teamfähigkeit
5. Mäßigung
- Vergebungsbereitschaft
- Bescheidenheit
- Selbstregulation
- Vorsicht
6. Transzendenz
- Sinn für das Schöne
- Dankbarkeit
- Hoffnung
- Spiritualität
- Humor
Diese Stärken gelten als universell, moralisch wertvoll, stabil, aber entwickelbar – also grundsätzlich trainierbar und förderbar.
Charakterstärken und psychisches Wohlbefinden
Zahlreiche Studien belegen, dass Charakterstärken mit positiven psychologischen Effekten verbunden sind:
- Erhöhte Lebenszufriedenheit
- Bessere Resilienz bei Stress oder Krisen
- Stärkeres Engagement und Flow-Erleben
- Höhere Motivation und Selbstwirksamkeit
- Geringere Anfälligkeit für Depressionen und Burnout
Vor allem der Einsatz der eigenen Signaturstärken – also jener Stärken, die individuell besonders ausgeprägt sind – im Alltag, in der Arbeit oder in Beziehungen gilt als förderlich für Glück und Authentizität.
Diagnostik und Selbstreflexion
Zur Erfassung von Charakterstärken wurde der VIA-IS (VIA Inventory of Strengths) entwickelt – ein psychologischer Fragebogen, der in verschiedenen Sprachen (auch auf Deutsch) kostenlos online verfügbar ist.
Weitere Methoden:
- Selbstbeobachtung
- Stärkeninterviews
- Feedback von Bezugspersonen
- Reflexion über biografische Wendepunkte
Ziel ist es, die eigenen Stärken nicht nur zu benennen, sondern gezielt zu nutzen, entwickeln und in Balance zu bringen.
Praxisnahe Förderung von Charakterstärken
- Stärken-Tagebuch
tägliche Reflexion: Wann habe ich heute eine meiner Stärken eingesetzt? - Stärken-Challenge
eine Woche lang eine persönliche Stärke gezielt im Alltag einsetzen - Rückblick auf Erfolgserlebnisse
Welche Stärken haben mir dabei geholfen? - Stärken in Beziehungen erkennen und würdigen
Förderung von Empathie, Respekt und gegenseitigem Wachstum - Stärkenvisualisierung
z. B. durch Symbolkarten, Collagen oder Metaphern - Integration in den Beruf
Welche Aufgaben lassen sich an meine Stärken anpassen?
Abgrenzung zu Talenten, Kompetenzen und Werten
- Charakterstärken: moralisch positiv bewertete Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Mut, Dankbarkeit)
- Talente: angeborene Begabungen, oft leistungsbezogen (z. B. musikalisches Gehör)
- Kompetenzen: erlernbare Fähigkeiten (z. B. Kommunikation, Problemlösen)
- Werte: abstrakte Lebensprinzipien (z. B. Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit)
Charakterstärken verbinden innere Haltung mit konkretem Verhalten – sie zeigen sich also im Tun.
Kulturelle und individuelle Unterschiede
Obwohl die 24 VIA-Stärken als universell beschrieben werden, zeigen sich kulturell unterschiedliche Gewichtungen:
- In westlichen Gesellschaften werden häufig Selbstbestimmung, Humor und Kreativität betont.
- In kollektivistisch geprägten Kulturen stehen eher Bescheidenheit, Respekt und Zugehörigkeit im Vordergrund.
Auch Persönlichkeit, Biografie und soziale Rollen beeinflussen, wie sich Charakterstärken ausprägen und zeigen.
Charakterstärken in Bildung, Therapie und Organisationen
In der Pädagogik fördern stärkenorientierte Ansätze Selbstvertrauen, Motivation und Sozialverhalten. Statt Defizite zu betonen, wird auf Ressourcen aufgebaut.
In der Psychotherapie werden Charakterstärken zur Förderung von Resilienz, Sinn und Selbstwert eingesetzt – z. B. in der Positiven Psychotherapie, der ACT (Acceptance and Commitment Therapy) oder der Schematherapie.
In Unternehmen steigern stärkenorientierte Arbeitsmodelle Motivation, Produktivität und Teamdynamik – insbesondere bei Aufgabenpassung und wertschätzendem Führungsverhalten.
Fazit: Stärken als Bausteine des Gelingens
Charakterstärken sind mehr als bloße Eigenschaften – sie sind Ausdruck unseres Menschseins, unserer Haltung zur Welt und unserer Fähigkeit, mit Sinn, Mut und Verbundenheit zu handeln.
Indem wir unsere Stärken erkennen, kultivieren und teilen, gestalten wir nicht nur unser eigenes Leben erfüllender – sondern stärken auch das soziale Gefüge, in dem wir leben. Denn wer seine Stärken lebt, wirkt – in sich und auf andere.