Derealisierung ist ein psychologisches Phänomen, bei dem Betroffene ihre Umwelt als verändert, unwirklich oder fremd empfinden. Typisch ist das Gefühl, als sei die Welt um sie herum „nicht echt“, wie durch eine Glasscheibe oder einen Nebelschleier wahrgenommen. Dabei bleibt das Bewusstsein darüber erhalten, dass diese veränderte Wahrnehmung nicht der Realität entspricht – ein entscheidender Unterschied zu psychotischen Störungen.

Derealisierung zählt zu den dissoziativen Symptomen und tritt häufig gemeinsam mit Depersonalisation auf – einem Zustand, in dem die eigene Person als unwirklich oder entfremdet erlebt wird. Im Unterschied zur Derealisierung ist bei der Depersonalisation nicht die Umwelt, sondern das Selbst betroffen.

Symptome und Wahrnehmungsverzerrungen

Typische Anzeichen einer Derealisierung

  • Die Umgebung wirkt fremd oder „nicht echt“, obwohl sie bekannt ist.
  • Farben, Formen und Geräusche erscheinen verzerrt oder verändert.
  • Zeitwahrnehmung ist gestört – Minuten können sich wie Stunden anfühlen oder umgekehrt.
  • Die Umwelt wirkt flach, leblos oder wie eine Kulisse.
  • Emotionale Verbindung zur Umgebung ist abgeschwächt oder fehlt.
  • Reize (visuell, auditiv, taktil) werden als gefiltert oder reduziert empfunden.
  • Häufig beschreibt sich das Gefühl als „wie in einem Traum“ oder „wie in einem Film“.

Verlauf und Intensität

Derealisierung kann akut, episodisch oder chronisch auftreten. Bei manchen Menschen bleibt das Gefühl über Monate oder Jahre bestehen, ohne sich vollständig zu lösen. Andere erleben es nur in Ausnahmesituationen. Die Intensität variiert und hängt von der Ursache sowie von der individuellen psychischen Konstitution ab.

Abgrenzung zu anderen psychischen Störungen

Ein wesentliches diagnostisches Kriterium der Derealisierung ist die intakte Realitätsprüfung. Im Gegensatz zu einer Psychose sind Betroffene sich ihrer veränderten Wahrnehmung bewusst und wissen, dass diese nicht „echt“ ist. Auch von Halluzinationen unterscheidet sich Derealisierung dadurch, dass keine zusätzlichen Sinneseindrücke erlebt werden – sondern reale Eindrücke verzerrt erscheinen.

Unterschied zu verwandten Phänomenen:

  • Depersonalisation: Entfremdung von der eigenen Person
  • Halluzinationen: Wahrnehmung von Dingen, die objektiv nicht existieren
  • Dissoziative Amnesie: Gedächtnislücken für bestimmte Ereignisse oder Zeiträume
  • Psychosen: Verlust des Realitätsbezugs, Wahnideen oder Halluzinationen

Ursachen und Auslöser

Die Derealisierung kann viele Ursachen haben. Sie tritt nicht nur als eigenständiges Störungsbild, sondern auch als Symptom anderer psychischer oder neurologischer Erkrankungen auf. In den meisten Fällen ist sie Ausdruck einer Überforderung des Gehirns mit intensiven inneren oder äußeren Reizen.

Mögliche Ursachen für Derealisierung:

  • Akuter Stress oder Panikattacken: Der Körper reagiert mit einem Schutzmechanismus – eine Art Notfallabschaltung.
  • Traumatische Erfahrungen: Als Abwehrreaktion auf emotionale Überflutung kann das Bewusstsein vorübergehend entkoppeln.
  • Angststörungen: Derealisierung tritt bei generalisierter Angst, sozialer Phobie oder Panikstörung häufig auf.
  • Depressionen: Auch depressive Zustände können eine gestörte Realitätswahrnehmung auslösen.
  • Drogenkonsum: Cannabis, LSD, MDMA oder Dissoziativa (z. B. Ketamin) können Derealisierungszustände hervorrufen oder verstärken.
  • Schlafmangel und Erschöpfung: Auch körperliche Überlastung kann das Auftreten begünstigen.
  • Neurologische Erkrankungen: Epilepsie, Migräne mit Aura oder Hirntraumata können ähnliche Symptome erzeugen.

Diagnostik

Die Diagnose basiert auf der klinischen Einschätzung, meist durch Fachärztinnen für Psychiatrie oder Psychotherapeutinnen. Es gibt derzeit keine bildgebenden oder laborchemischen Verfahren, die Derealisierung direkt nachweisen können.

Hilfsmittel in der Diagnostik:

  • Cambridge Depersonalisation Scale (CDS): Ein Fragebogen zur systematischen Erfassung der Symptomatik.
  • Fragebogen zu Dissoziativen Symptomen (FDS)
  • Differentialdiagnostik: Ausschluss organischer Ursachen durch EEG, MRT oder Labordiagnostik bei Bedarf

Therapie und Behandlungsmöglichkeiten

Die Therapie richtet sich nach der Ursache, dem Schweregrad der Symptome und dem Leidensdruck der betroffenen Person. In vielen Fällen ist eine Kombination aus Psychoedukation, Psychotherapie und unterstützenden Maßnahmen hilfreich.

Psychotherapeutische Ansätze
  • Kognitive Verhaltenstherapie (CBT): Ziel ist es, dysfunktionale Gedanken zu erkennen und zu verändern sowie Angstsymptome zu regulieren.
  • Achtsamkeitsbasierte Methoden: z. B. MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) oder ACT (Acceptance and Commitment Therapy) zur Förderung der Präsenz.
  • Stabilisierungstechniken: Bodenübungen, Sinnesreize oder imaginative Techniken können helfen, den Realitätsbezug zu festigen.
  • Traumabearbeitung: Bei zugrunde liegenden Traumata kommen Verfahren wie EMDR oder die Psychodynamische Imaginative Traumatherapie (PITT) zum Einsatz.
Pharmakologische Behandlung
  • Antidepressiva (SSRI/SNRI): Besonders bei begleitender Angst oder Depression kann eine medikamentöse Behandlung helfen.
  • Anxiolytika: Bei starker Unruhe nur kurzzeitig und mit Vorsicht.
  • Stimulanzien: In Einzelfällen bei chronischer Derealisierung mit Konzentrationsstörungen diskutiert, aber keine Standardtherapie.
Ergänzende Maßnahmen
  • Psychoedukation: Aufklärung über Ursachen und Symptome reduziert die Angst und stärkt die Selbstwirksamkeit.
  • Lifestyle-Faktoren: Ausreichend Schlaf, gesunde Ernährung, geregelter Alltag und Stressreduktion tragen zur Stabilisierung bei.
  • Körperorientierte Verfahren: Yoga, progressive Muskelentspannung oder Sport fördern die Erdung im Hier und Jetzt.

Alltag und soziale Auswirkungen

Langfristige Derealisierungszustände können zu sozialem Rückzug, Arbeitsunfähigkeit und Angst vor Kontrollverlust führen. Viele Betroffene berichten über Schwierigkeiten, die Symptomatik in ihrem Umfeld zu erklären – da sie äußerlich meist „normal“ wirken. Der Leidensdruck ist häufig hoch, auch wenn das äußere Verhalten nicht auffällig ist.

Strategien zur Bewältigung:
  • Aufbau stabiler Tagesstrukturen
  • Reduktion von Reizüberflutung (z. B. durch digitale Medien)
  • Soziale Unterstützung durch vertraute Personen oder Selbsthilfegruppen
  • Geduldiger Umgang mit Rückfällen und Aufschwüngen

Wissenschaftlicher Kontext

Die Derealisierung wird in der ICD-10 unter dem Diagnoseschlüssel F48.1 (Depersonalisations- und Derealisationssyndrom) geführt. In der DSM-5 ist sie Teil der „Depersonalisations-/Derealisationsstörung“.

Neurobiologisch zeigen Studien, dass es Hinweise auf eine veränderte Aktivität im präfrontalen Cortex, in der Amygdala und im visuellen Kortex gibt. Die Verarbeitung von Emotionen und Sinneseindrücken scheint gestört oder entkoppelt zu sein. Auch der veränderte Cortisolhaushalt bei Stress könnte eine Rolle spielen.

Fazit

Derealisierung ist ein oft übersehenes, aber weit verbreitetes psychologisches Phänomen. Es beeinträchtigt das Leben der Betroffenen erheblich – obwohl der Realitätsbezug grundsätzlich intakt bleibt. Die Ursachen reichen von Angststörungen über Trauma bis hin zu neurologischen Reizen. Für eine erfolgreiche Behandlung ist es entscheidend, die Derealisierung als ernstzunehmendes Symptom zu erkennen und nicht vorschnell als „Einbildung“ abzutun. Psychotherapie, Psychoedukation und gezielte Stabilisierungstechniken bieten gute Chancen auf Besserung. Eine frühzeitige Intervention kann verhindern, dass sich der Zustand chronifiziert und das Alltagsleben massiv einschränkt.