Dissoziative Identitätsstörung

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Die Dissoziative Identitätsstörung (kurz: DIS, früher bekannt als multiple Persönlichkeitsstörung) ist eine schwere Form der dissoziativen Störungen, bei der eine betroffene Person über zwei oder mehr unterscheidbare Identitäten oder Persönlichkeitszustände verfügt. Diese Identitäten übernehmen abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten und unterscheiden sich oft deutlich in Sprache, Gestik, Vorlieben, Erinnerungen und sogar physiologischen Reaktionen.

Laut DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) ist die DIS gekennzeichnet durch:

  • das Vorhandensein von zwei oder mehr unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen („Alters“),
  • wiederkehrende Amnesien für alltägliche Ereignisse, persönliche Informationen oder traumatische Erlebnisse,
  • erheblicher Leidensdruck oder Einschränkungen im sozialen, beruflichen oder alltäglichen Leben.

Im ICD-10 wird die Störung unter dem Code F44.81 geführt. Sie gilt als eine der komplexesten und kontrovers diskutierten psychischen Erkrankungen.

Symptome und Erscheinungsformen der Dissoziative Identitätsstörung

Die Symptome sind vielfältig und komplex. Sie treten oft in Kombination mit anderen psychischen Problemen auf und können für Außenstehende schwer verständlich oder uneinheitlich wirken.

Kernsymptome der dissoziativen Identitätsstörung:

  • Zwei oder mehr eigenständige Persönlichkeitszustände mit unterschiedlichen Namen, Altersangaben, Erinnerungen, Einstellungen, Fähigkeiten und Körperschemata.
  • Erinnerungslücken (dissoziative Amnesie), die nicht durch gewöhnliche Vergesslichkeit erklärbar sind.
  • Unwillkürliche Wechsel zwischen den Persönlichkeitsanteilen, oft ausgelöst durch Stress oder traumatische Trigger.
  • Depersonalisation und Derealisierung sind häufig begleitend vorhanden.
  • Psychosomatische Symptome wie Kopfschmerzen, Erschöpfung, Sehstörungen oder Schmerzen ohne medizinische Ursache.
  • Selbstverletzendes Verhalten oder Suizidgedanken, vor allem bei fehlender Integration der Anteile.

Beispiele für Persönlichkeitszustände:

  • Kindliche Anteile: tragen Erinnerungen an frühkindliches Trauma.
  • Beschützende Anteile: treten in bedrohlichen Situationen auf.
  • Alltags-Anteile: übernehmen Beruf, Familie, Organisation.
  • Aggressive Anteile: Ausdruck von Wut, Abwehr oder Schmerz.

Diese Anteile können unterschiedliche Geschlechter, Sprachen oder sogar Handschriften haben.

Ursachen und Entstehungsbedingungen der dissoziativen Identitätsstörung

Die Dissoziative Identitätsstörung entsteht meist infolge schwerer chronischer Traumatisierung in der Kindheit. Dazu zählen insbesondere:

  • Sexueller Missbrauch, oft durch Bezugspersonen
  • Körperliche Misshandlung und Folter
  • Emotionale Vernachlässigung
  • Zwang, Schuldinduktion oder Indoktrination

Die kindliche Psyche nutzt die Dissoziation als Überlebensmechanismus: Statt eine traumatische Erfahrung bewusst zu durchleben, wird sie in ein „abgespaltenes Selbst“ ausgelagert. So entstehen über die Zeit verschiedene Persönlichkeitsanteile, die getrennte Gedächtnisinhalte und emotionale Zuständigkeiten tragen.

Die Entwicklung dieser Struktur dient in der Kindheit dem Schutz, wird jedoch im Erwachsenenalter zunehmend zur Belastung, vor allem wenn die Anteile unkontrolliert wechseln oder im Konflikt zueinander stehen.

Diagnostik

Die Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung ist anspruchsvoll und erfordert eine umfassende klinische Untersuchung. Häufig dauert es Jahre, bis die korrekte Diagnose gestellt wird.

Diagnoseinstrumente:

  • Structured Clinical Interview for DSM Disorders – Dissociative Disorders (SCID-D)
  • Dissociative Experiences Scale (DES)
  • Fragebögen zu Trauma- und Dissoziationserfahrungen

Zentrale diagnostische Kriterien:

  • Vorhandensein multipler Persönlichkeitszustände
  • Dissoziative Amnesien
  • Nicht durch Substanzen oder medizinische Ursachen erklärbare Symptome
  • Deutlicher Leidensdruck

Wichtig ist die Abgrenzung zu:
  • Schizophrenie (keine realitätsfernen Stimmen, sondern „innere Anteile“)
  • Borderline-Persönlichkeitsstörung
  • PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung ohne vollständige Ich-Zersplitterung)

Therapie und Behandlungsmöglichkeiten

Ziel der Therapie ist nicht die „Eliminierung“ einzelner Persönlichkeitszustände, sondern ihre Integration zu einer kohärenten Identität oder zumindest eine funktionale Zusammenarbeit („Kooperation der Anteile“).

Psychotherapeutische Verfahren:
  • Traumatherapie: Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse, oft mithilfe von EMDR, PITT oder sensibler Gesprächspsychotherapie
  • Strukturierende Therapieformen: z. B. nach Ellert Nijenhuis oder Richard Kluft
  • Phase-orientiertes Vorgehen:
    • Stabilisierung und Symptomkontrolle
    • Traumabearbeitung
    • Integration oder funktionale Kooperation

Begleitende Maßnahmen:
  • Medikamentöse Unterstützung: Keine Medikamente gegen DIS selbst, aber Einsatz von Antidepressiva, Anxiolytika oder Schlafmitteln bei Bedarf
  • Tagesstruktur und Selbstfürsorge: Förderung eines stabilen Alltags, z. B. über Skills-Training
  • Psychoedukation: Aufklärung über das Zusammenspiel der Anteile und die Funktion der Dissoziation

Die Therapie ist oft langwierig, kann sich über viele Jahre erstrecken und erfordert hohe therapeutische Expertise, Geduld und eine vertrauensvolle Beziehung.

Soziale und gesellschaftliche Herausforderungen

Die Dissoziative Identitätsstörung ist eine der am häufigsten fehl- oder nicht diagnostizierten psychischen Störungen. Viele Betroffene erleben lange Jahre unerkannte Symptome und werden fälschlich als „verrückt“, „theatralisch“ oder „unzuverlässig“ eingestuft.

Herausforderungen im Alltag :

  • Schwierigkeiten im Berufsleben (z. B. Erinnerungslücken, Leistungsschwankungen)
  • Probleme in Beziehungen (Unverständnis, plötzliche Verhaltensänderungen)
  • Häufige Wechsel zwischen Anspannung und Lethargie
  • Gefühl der Fremdbestimmung, Kontrollverlust und Isolation
  • Angst vor Stigmatisierung oder pathologischer Neugier

Der gesellschaftliche Umgang mit der Störung schwankt zwischen Faszination und Ablehnung – nicht zuletzt durch verzerrte Darstellungen in Filmen oder Medien.

Wissenschaftlicher Hintergrund und Diskussion

Die Dissoziative Identitätsstörung ist Gegenstand intensiver Forschung und zugleich umstritten. Während viele Fachleute sie als Folge schwerer Traumata anerkennen, gibt es auch Kritiker, die sie als „kulturell geprägtes Phänomen“ oder therapeutisch induzierte Störung ansehen.

Neurowissenschaftliche Studien zeigen:

  • Veränderte Aktivität in Hippocampus, Amygdala und präfrontalem Cortex
  • Unterschiede im EEG und fMRT zwischen Persönlichkeitszuständen
  • Deutliche neurobiologische Spuren frühkindlicher Traumatisierung

Die Debatte wird heute differenzierter geführt, mit Schwerpunkt auf einem traumabasierten Modell, das neurobiologische, psychodynamische und soziokulturelle Aspekte berücksichtigt.

Fazit

Die Dissoziative Identitätsstörung ist eine tiefgreifende psychische Störung, die auf schwere, meist frühkindliche Traumata zurückgeht. Sie stellt einen komplexen Schutzmechanismus dar, durch den sich das Selbst in verschiedene Anteile aufspaltet, um unerträgliche Erfahrungen abzuspalten und zu überleben. Die Diagnose erfordert Fingerspitzengefühl, die Therapie Geduld und Struktur. In vielen Fällen ist eine gute Lebensqualität erreichbar – vorausgesetzt, die Betroffenen erhalten eine fundierte, traumasensible Behandlung in einem verstehenden und sicheren Umfeld. Die gesellschaftliche Entstigmatisierung bleibt eine zentrale Aufgabe der kommenden Jahre.