Egozentrizität

Egozentrizität verstehen: Was ist das?
Egozentrizität beschreibt in der Psychologie eine Haltung oder Denkweise, bei der die eigene Perspektive, die eigenen Bedürfnisse und Überzeugungen überbewertet werden. Egozentrische Personen neigen dazu, die Welt aus einem ausschließlich auf sich selbst bezogenen Blickwinkel zu betrachten. Dabei fällt es ihnen schwer, sich in die Gedanken, Gefühle oder Sichtweisen anderer Menschen hineinzuversetzen.
Egozentrizität ist in bestimmten Entwicklungsphasen völlig normal – insbesondere bei Kindern – kann aber bei Jugendlichen oder Erwachsenen problematisch werden, wenn sie dauerhaft besteht oder sich in sozialen Beziehungen negativ auswirkt.
Abgrenzung zu verwandten Begriffen
Egozentrizität ist nicht mit Egoismus oder Narzissmus gleichzusetzen, obwohl es Überschneidungen geben kann:
- Egoismus beschreibt das bewusste Handeln im eigenen Interesse – oft auf Kosten anderer.
- Narzissmus geht über Egozentrizität hinaus und umfasst ein übersteigertes Selbstwertgefühl, den Wunsch nach Bewunderung und häufig eine Abwertung anderer.
- Egozentrizität hingegen ist vor allem eine kognitive Einschränkung im Perspektivwechsel – das Unvermögen, die eigene Sichtweise relativ zu betrachten.
Egozentrizität in der kindlichen Entwicklung
Der Begriff wurde maßgeblich durch den Entwicklungspsychologen Jean Piaget geprägt. In seiner Theorie zur kognitiven Entwicklung beschrieb er Egozentrizität als typisches Merkmal der präoperationalen Phase (zwischen ca. 2 und 7 Jahren):
Egozentrizität Beispiele bei Kindern:
- Ein Kind verdeckt sein Gesicht beim Versteckspiel und glaubt, dadurch auch für andere „unsichtbar“ zu sein.
- Im Gespräch erkennt es nicht, dass der Gesprächspartner andere Informationen oder Blickwinkel haben könnte.
- Es erzählt von eigenen Erlebnissen, ohne den Kontext für andere nachvollziehbar zu machen.
Kinder in dieser Phase können sich noch nicht in andere hineinversetzen, weil ihre Fähigkeit zur Perspektivübernahme noch nicht ausreichend entwickelt ist. Ab etwa dem 7. Lebensjahr entwickelt sich diese Fähigkeit zunehmend – Egozentrizität nimmt ab.
Egozentrizität im Jugend- und Erwachsenenalter
Auch Jugendliche können vorübergehend egozentrisches Verhalten zeigen. In der Pubertät nimmt das Bedürfnis nach Abgrenzung zu, das Selbstbewusstsein ist im Wandel, und die Wahrnehmung dreht sich oft stark um die eigene Person. Psycholog*innen sprechen hier von der „adoleszenten Egozentrik“.
Merkmale adoleszenter Egozentrik:
- Glaube, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen („imaginary audience“)
- Überzeugung, dass eigene Erlebnisse einzigartig und unverständlich für andere sind („personal fable“)
- Emotionales Auf und Ab, verstärkte Selbstbeobachtung
Diese Form der Egozentrizität ist entwicklungstypisch und klingt in der Regel mit dem Übergang ins Erwachsenenalter ab. Bleibt sie jedoch bestehen, kann sie das Sozialverhalten langfristig beeinträchtigen.
Ursachen und psychologische Erklärungsmodelle
Mögliche Ursachen für anhaltende Egozentrizität:
- Verzögerte oder gestörte Entwicklung sozial-kognitiver Fähigkeiten
- Traumatische Kindheitserfahrungen mit fehlender emotionaler Spiegelung
- Überbehütung oder fehlende Grenzen in der frühen Sozialisation
- Störungen der Empathiefähigkeit, z. B. im Rahmen autistischer Spektrumsstörungen
- Persönlichkeitsstörungen, etwa aus dem narzisstischen oder histrionischen Spektrum
Egozentrizität kann aber auch situationsbedingt auftreten – z. B. in Stresssituationen, bei Scham oder in Momenten großer Unsicherheit. Dann dient sie als Schutzmechanismus zur Stabilisierung des Selbstbildes.
Egozentrisches Verhalten im sozialen Kontext
Egozentrizität kann zwischenmenschliche Beziehungen erheblich belasten. Wer unfähig ist, die Perspektive anderer einzunehmen, neigt dazu, Missverständnisse zu erzeugen, Empathie zu blockieren und Konflikte zu verschärfen.
Typische Verhaltensweisen:
- Unterbrechungen im Gespräch, fehlendes Zuhören
- Mangel an Mitgefühl für andere Positionen oder Gefühle
- Überbewertung eigener Probleme („meins ist schlimmer“)
- Projektion eigener Denkweisen auf andere („das denkt doch jeder so“)
- Unfähigkeit zur Reflexion oder Einsicht in Fehlverhalten
Im Berufsleben kann egozentrisches Verhalten zu Teamkonflikten führen, im Privatleben belastet es Partnerschaften und Freundschaften.
Diagnostik und Erkennung der Egozentrizität
Egozentrizität ist keine psychische Störung im engeren Sinn, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal oder eine Denkweise. Sie wird nicht klinisch diagnostiziert, kann aber im Rahmen psychologischer Gespräche oder durch Beobachtung deutlich werden.
Instrumente zur Erfassung:
- Persönlichkeitsfragebögen, z. B. NEO-PI-R (Big Five), in denen Empathie oder Perspektivübernahme geprüft werden
- Projektive Verfahren zur Einschätzung von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung
- Verhaltenstests zur sozialen Kognition
In der klinischen Praxis wird Egozentrizität v. a. dann relevant, wenn sie mit Störungsbildern wie Narzisstischer Persönlichkeitsstörung, Autismus-Spektrum-Störung oder dissozialem Verhalten einhergeht.
Therapeutische Ansätze gegen Egozentrizität
Da Egozentrizität kein pathologisches Syndrom darstellt, steht nicht die „Heilung“ im Fokus, sondern die Förderung von Empathie, Perspektivwechsel und sozialer Reflexionsfähigkeit.
Interventionen in der Psychotherapie:
- Gesprächspsychotherapie: Förderung empathischer Dialoge und Spiegelung durch den/die Therapeut*in
- Kognitive Verhaltenstherapie: Schulung sozialer Kompetenzen, Einüben von Rollentausch
- Schematherapie: Aufarbeitung dysfunktionaler Grundannahmen, z. B. „Nur meine Meinung zählt“
- Mentalisierungsbasierte Therapie: Förderung der Fähigkeit, über das Denken und Fühlen anderer nachzudenken
- Gruppentherapie: Rückmeldung durch andere fördert Einsicht in eigene Wirkung
Auch in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wird gezielt an Perspektivübernahme gearbeitet – etwa durch Rollenspiele, Geschichten oder Gruppendiskussionen.
Gesellschaftliche Aspekte
In modernen Gesellschaften, in denen Individualismus und Selbstoptimierung stark betont werden, kann Egozentrizität unbewusst gefördert werden. Besonders in sozialen Medien wird oft ein stark selbstbezogenes Kommunikationsverhalten sichtbar – was eine gesunde Perspektivenvielfalt erschwert.
Gleichzeitig steigt die Notwendigkeit, soziale Kompetenzen und Empathie aktiv zu fördern, um der Vereinsamung und zunehmenden Polarisierung entgegenzuwirken.
Fazit
Egozentrizität ist ein zentrales psychologisches Konzept, das weit über kindliches Verhalten hinausreicht. Sie beschreibt die Tendenz, die Welt vornehmlich aus der eigenen Sicht wahrzunehmen – oft ohne Rücksicht auf andere Perspektiven. Während sie in bestimmten Lebensphasen Teil einer normalen Entwicklung ist, kann sie bei mangelnder Perspektivübernahme zu sozialen Schwierigkeiten führen. Therapeutische Ansätze zielen darauf ab, Empathie zu fördern, Selbstreflexion zu ermöglichen und das soziale Miteinander zu stärken. Egozentrizität ist nicht per se pathologisch, kann jedoch bei starker Ausprägung zur Belastung für zwischenmenschliche Beziehungen werden.