Erlernte Hilflosigkeit

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Erlernte Hilflosigkeit: Verstehe, wie wiederholter Kontrollverlust zu Passivität führt.

Erlernte Hilflosigkeit (engl. Learned Helplessness) ist ein psychologisches Konzept, das beschreibt, wie Individuen – nach wiederholten Erfahrungen von Kontrollverlust oder Misserfolg – die Erwartung entwickeln, dass sie ihr Schicksal nicht beeinflussen können. In der Folge zeigen sie Passivität, Rückzug und Resignation, auch in Situationen, in denen Handlungsmöglichkeiten objektiv bestehen würden.

Das Konzept wurde in den 1960er-Jahren von den Psychologen Martin E. P. Seligman und Steven F. Maier entwickelt. Ursprünglich basierte es auf Tierexperimenten, wurde jedoch schnell auf den Menschen übertragen und gilt heute als zentrales Erklärungsmodell für bestimmte Formen von Depression, Angststörungen, Traumafolgestörungen und Leistungsversagen.

Grundmechanismen der erlernten Hilflosigkeit

Kernaussagen des Modells:

  • Wenn Individuen über längere Zeit erfahren, dass ihre Handlungen keine Wirkung zeigen, lernen sie: „Es spielt keine Rolle, was ich tue.“
  • Diese Generalisierung des Kontrollverlusts führt dazu, dass sie auch in veränderbaren Situationen keine aktiven Lösungsversuche mehr unternehmen.
  • Die Erwartung von Ohnmacht wird verinnerlicht – mit negativen Auswirkungen auf Denken, Fühlen und Handeln.

Die Folge ist ein Teufelskreis aus Vermeidung, Inaktivität und verstärkter Frustration, der die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen kann.

Symptome und Anzeichen der erlernten Hilflosigkeit

Typische Merkmale von erlernter Hilflosigkeit:

  • Antriebslosigkeit und Passivität, auch bei lösbaren Problemen
  • Geringes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
  • Verlust von Motivation, neue Herausforderungen anzugehen
  • Pessimistische Zukunftserwartungen
  • Gefühl der Ausweglosigkeit und Ohnmacht
  • Psychosomatische Beschwerden wie Müdigkeit, Schlafstörungen oder Appetitverlust
  • Sozialer Rückzug und verringerte Beteiligung an Gruppenaktivitäten

In stark ausgeprägter Form kann erlernte Hilflosigkeit zu depressiven Episoden führen oder deren Verlauf verschärfen.

Ursachen und Entstehung

Erlernte Hilflosigkeit entsteht meist nicht durch ein einmaliges Ereignis, sondern durch wiederholte Erfahrungen, in denen eine Person keinen Einfluss auf negative Umstände ausüben konnte. Dies kann sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter geschehen.

Typische Auslöser:
  • Wiederholte Misserfolge (z. B. in Schule, Beruf, Sport)
  • Strukturelle Ungerechtigkeit oder Diskriminierung (z. B. in Armut oder bei Ausgrenzungserfahrungen)
  • Autoritäre Erziehung ohne Selbstbestimmung
  • Chronische Überforderung oder Belastung ohne Entlastungsmöglichkeiten
  • Missbrauch, Vernachlässigung oder Trauma – insbesondere in der Kindheit

Entscheidend ist, dass das Gefühl entsteht: „Ich habe keine Kontrolle.“ Je häufiger und intensiver dieses Gefühl erlebt wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen erlernter Hilflosigkeit.

Kognitive Weiterentwicklung des Modells

In späteren Arbeiten ergänzten Seligman und andere Forscher das Modell durch eine kognitive Komponente, die sogenannten Attributionstheorien. Hier wird untersucht, wie Menschen Misserfolge interpretieren.

Attributionsmuster bei erlernter Hilflosigkeit:
  • Internale Attribution: „Ich bin schuld, weil ich unfähig bin.“
  • Stabile Attribution: „Das wird sich nie ändern.“
  • Globale Attribution: „Es betrifft alle Bereiche meines Lebens.“

Diese Denkweisen verstärken die Hilflosigkeit und führen zu einem negativen Selbstbild.

Erlernte Hilflosigkeit in verschiedenen Kontexten

Schule und Bildung:
  • Kinder, die wiederholt schlechte Noten erhalten, entwickeln das Gefühl, „sowieso nichts zu können“.
  • Lehrer*innen, die nur Defizite betonen, verstärken das Muster.
  • Folge: Leistungsabfall, Schulangst, Verweigerung oder Rückzug.

Arbeitswelt:
  • Unterforderung, Monotonie oder ständige Kritik führen zu Demotivation.
  • Fehlt die Möglichkeit zur Mitbestimmung, sinkt das Gefühl von Selbstwirksamkeit.
  • Folge: innere Kündigung, Burnout-Risiko.

Psychische Erkrankungen:
  • Depression: Erlernte Hilflosigkeit wird als zentraler Auslöser und Verstärker gesehen.
  • Posttraumatische Belastungsstörung: Kontrollverlust im Trauma wird generalisiert.
  • Angststörungen: Das Gefühl, Gefahren nicht bewältigen zu können, verstärkt die Symptome.

Gesellschaftliche Ebene:
  • Menschen in Armut oder Diskriminierungssituationen können ebenfalls hilflos werden, wenn keine Veränderung möglich scheint.
  • Hier ist Empowerment ein zentraler Gegenbegriff.

Unterschied zu tatsächlicher Hilflosigkeit

Es ist wichtig, erlernte Hilflosigkeit von realer, situativer Hilflosigkeit zu unterscheiden. Nicht jede passive Reaktion ist pathologisch – manchmal ist das Nichthandeln schlicht Ausdruck realer Ohnmacht (z. B. bei Naturkatastrophen, Krankheit). Die Problematik entsteht, wenn dieses Erleben verallgemeinert und internalisiert wird, obwohl objektiv Handlungsmöglichkeiten bestehen.

Behandlung und Prävention

Das Ziel in Therapie und Prävention ist es, die erlebte Kontrolle zurückzugeben – durch neue Erfahrungen, Selbstwirksamkeit und korrigierende Lernprozesse.

Psychotherapeutische Ansätze:
  • Kognitive Verhaltenstherapie (KVT):
    Veränderung dysfunktionaler Denk- und Attributionsmuster
    Aufbau von realistischer Selbstwahrnehmung und Zielsetzung
  • Schematherapie:
    Bearbeitung tiefliegender Überzeugungen wie „Ich bin machtlos“ oder „Ich darf nichts wollen“
  • Lösungsorientierte Kurzzeittherapie:
    Fokussierung auf vorhandene Stärken und konkrete Handlungsschritte
  • Positive Psychologie:
    Förderung von Dankbarkeit, Selbstwirksamkeit, Zukunftsplanung
  • Traumatherapie (z. B. EMDR):
    Verarbeitung von traumatischem Kontrollverlust und Aufbau sicherer innerer Strukturen

Präventive Maßnahmen:
  • Erziehungsstile mit Wahlmöglichkeiten und Verantwortung
  • Lehrmethoden, die auf Erfolgserlebnisse statt Bestrafung setzen
  • Förderung von Resilienz in Schule, Jugendarbeit und Sozialpädagogik
  • Empowerment-Angebote für benachteiligte Gruppen

Fazit

Erlernte Hilflosigkeit beschreibt einen psychischen Zustand der Ohnmacht, der durch wiederholte Erfahrungen von Kontrollverlust entsteht. Die Folgen sind Passivität, Resignation und die Erwartung, dass eigene Handlungen wirkungslos bleiben. Dieses Konzept erklärt viele Formen psychischer Belastung – von Depression bis Schulversagen – und bietet wichtige Ansatzpunkte für Therapie und Prävention. Der Ausweg liegt in neuen, positiven Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, die zeigen: „Ich kann etwas bewirken.“ Ein ressourcenorientierter Umgang mit Herausforderungen, unterstützende Beziehungen und gezielte Interventionen können helfen, den Kreislauf der Hilflosigkeit zu durchbrechen.