Narrative Exposure Therapie (NET)

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NET ist ein spezielles Traumatherapie-Verfahren, das ursprünglich entwickelt wurde, um Menschen mit multiplen Traumata zu helfen, zum Beispiel Überlebenden von Krieg, Folter oder mehrfacher Gewalt. Der Ansatz ist kurz gesagt folgender: In der NET erzählt der traumatisierte Mensch mit Unterstützung des Therapeuten seine Lebensgeschichte von Anfang bis Ende, wobei alle schlimmen (aber auch die schönen) Ereignisse schrittweise aufgearbeitet werden. Durch dieses strukturierte Erzählen werden die zerstückelten traumatischen Erinnerungen in einen Zusammenhang gebracht. Was vorher als isolierte, überwältigende Fetzen im Gedächtnis spukte, wird in eine kohärente autobiografische Erzählung eingebettet. Dadurch verlieren die Erinnerungen nach und nach ihren Schrecken. Gefühle, Orte und Kontext werden wieder verknüpft, und das Gehirn kann die Erlebnisse besser als vergangen einsortieren. NET wird oft in Krisengebieten und Flüchtlingslagern eingesetzt, weil sie relativ kurz und pragmatisch ist: In etwa 8-12 Sitzungen kann man sie durchführen und erzielt damit erstaunliche Erfolge bei der Behandlung von PTBS.

Wie läuft eine NET-Behandlung ab?

Die Narrative Expositionstherapie beginnt zunächst wie jede Traumatherapie mit Diagnostik und Psychoedukation: Der Therapeut klärt gemeinsam mit dem Patienten, ob NET das richtige Verfahren ist, und erklärt ausführlich, was auf ihn zukommt. Wenn der Patient sich dafür entscheidet, geht es an die zentrale Methode der NET: das Erstellen der Lebenslinie (Life Line). Klassischerweise wird dafür ein Seil auf den Boden gelegt, dass die Lebenszeit des Patienten vom Geburtszeitpunkt bis heute symbolisiert. Auf dieser Linie werden dann mit physischen Markern alle wichtigen Ereignisse markiert: „Blumen“ stehen für positive, schöne Erinnerungen, „Steine“ für traumatische oder negative Erlebnisse. Gemeinsam füllt man so nach und nach die Timeline von der Kindheit über Jugend bis ins Erwachsenenalter. Schon diese Übung gibt einen ersten Überblick über die persönlichen Höhen und Tiefen und hilft dabei, die Chronologie zu strukturieren. Für viele traumatisierte Menschen, deren Erinnerungen chaotisch durcheinanderwirbeln, ist das sehr wichtig.

Anschließend beginnt die eigentliche Exposition im Narrativ: Der Patient erzählt mit Unterstützung des Therapeuten detailliert sein Leben nach. Man fängt meist bei der frühesten Erinnerung an und arbeitet sich biografisch voran. Jede Therapiesitzung dauert ca. 90 Minuten. Typischerweise wird zu Beginn einer neuen Sitzung zunächst das zuletzt Erzählte (besonders das letzte Trauma, das bearbeitet wurde) noch einmal vorgelesen oder rekapituliert. Dann geht man zum nächsten Lebensabschnitt über. Dabei liegt der Fokus speziell auf den traumatischen Ereignissen, diese werden in sehr hohem Detailgrad erinnert und verbalisiert. Der Therapeut ermutigt den Patienten, wirklich alles zu erzählen: Was ist genau passiert? Was hat die Person gesehen, gehört, gefühlt, gedacht? Nichts wird beschönigt oder ausgelassen. Das kann natürlich emotional extrem belastend sein. Aber der entscheidende Unterschied ist: Es geschieht im geschützten Raum der Therapie, im „Hier und Jetzt“ und nicht mehr in der damaligen lebensbedrohlichen Situation. Der Patient erlebt das Trauma quasi erneut, aber mit Abstand, er spricht darüber, anstatt wieder mittendrin zu stecken. Der Therapeut sorgt für Sicherheit, erdet den Patienten immer wieder im aktuellen Moment z. B. durch Nachfragen: „Was fühlen Sie gerade auf dem Stuhl? Können Sie wahrnehmen, dass Sie jetzt in meinem Zimmer sind, nicht damals?“. So wird die Vergangenheit auf allen Ebenen in die Gegenwart geholt, bis das Erlebte sich schließlich benennen, einordnen und begreifen lässt. Durch die wiederholte Konfrontation tritt mit der Zeit eine Habituation ein, das heißt, die heftige emotionale Reaktion auf die Erinnerung nimmt ab. Gleichzeitig entsteht eine Integration: Der Betroffene verknüpft die Erinnerung mit zeitlichem und räumlichem Kontext: „Es war damals, und es war dort, und jetzt bin ich hier in Sicherheit.“.

Dieser Prozess wird für jede traumatische Episode auf der Lebenslinie durchlaufen. Je nach Anzahl der Traumata können das viele Sitzungen sein. NET wird meist so lange fortgesetzt, bis alle schweren Erlebnisse erzählt wurden. In Deutschland sind nach Manual meist mindestens 10-12 Sitzungen erforderlich, um die Wirksamkeit auszuschöpfen. Am Ende der Behandlung steht eine Komplett-Narration: Die gesamte Lebensgeschichte wurde erarbeitet, von Geburt bis heute, mit all ihren Tiefen und Höhen. Der Therapeut schreibt diese in Ich-Form auf (oft wird schon während der Sitzungen protokolliert) und übergibt dem Patienten das fertige Dokument. Das hat einen symbolischen und realen Wert: Zum einen hält der Patient damit schwarz auf weiß sein eigenes Zeugnis als Trauma-Überlebender in den Händen, welches oft ein sehr bewegender Moment der Würdigung ist. Zum anderen kann dieser Bericht, wenn der Patient einverstanden ist, auch für juristische Zwecke verwendet werden (z. B. als Unterstützungsdokument in Asylverfahren oder Gerichtsprozessen). NET steht nämlich in der Tradition der sogenannten Testimony Therapy, die eng mit der Menschenrechtsarbeit verknüpft ist. Den Überlebenden wird eine Stimme gegeben, und ihre Geschichte wird gehört und anerkannt.

Warum ist NET so wirksam?

Die Narrative Expositionstherapie vereint mehrere Wirkfaktoren, die sie insbesondere bei komplexen Traumata so erfolgreich machen.

  1. Sie stellt den roten Faden der Biografie wieder her. Viele Traumatisierte haben das Gefühl, ihr Leben sei auseinandergebrochen- “Nichts ergibt mehr Sinn.” NET hilft, die Puzzleteile wieder zusammenzufügen. Man sieht plötzlich, wie ein Ereignis zum nächsten geführt hat, erkennt Lebensmuster und kann vielleicht sogar einen Sinn oder zumindest eine Reihenfolge darin erkennen. Das schafft Kontinuität und nimmt dem Chaos im Kopf etwas von seinem Schrecken.
  2. NET konfrontiert schonungslos, aber in sicherer Dosierung. Anders als bei manchen Therapien, bei denen zunächst lange Kräfte gestärkt werden, geht NET relativ früh an die Wurzel des Problems. Dabei wird jedoch immer nur so viel aufgearbeitet, wie der Patient es aushält. Durch die konsequente Konfrontation mit jedem Trauma in allen Details wird vermieden, dass „versteckte“ Traumata unaufgearbeitet bleiben. Alles, was weh tut, wird angeschaut. Das klingt hart, ist aber genau der Mechanismus, der frei macht.
  3. Die Therapeut-Patient-Beziehung in NET ist sehr aktiv und stützend. Der Therapeut begleitet quasi als Co-Autor die Lebensgeschichte. Viele Betroffene erleben zum ersten Mal, dass jemand sich wirklich für all ihre Erlebnisse interessiert und ihnen glaubt, egal wie grausam oder unvorstellbar diese sind. Das hat eine ungemein validierende Wirkung und stärkt das Vertrauen in zwischenmenschliche Beziehungen erneut.
  4. Die schriftliche Fixierung und das Zertifikat am Ende geben dem Trauma eine Form und einen Abschluss. Es ist, als würde man ein Buch zuschlagen können: “Das habe ich durchlebt und überlebt, hier steht es, und ich bin mehr als diese Erlebnisse.”

Wissenschaftliche Studien bescheinigen der NET hohe Wirksamkeit bei PTBS. In den Behandlungsleitlinien wird NET (neben anderen traumafokussierten Therapien) als Methode der ersten Wahl empfohlen. Besonders bei Überlebenden von Krieg, politischer Gewalt oder Flüchtlingen hat sich NET bewährt, da sie kulturübergreifend einsetzbar ist. Die Methode lässt sich in unterschiedlichen Ländern und Kontexten anwenden, was zahlreiche Projekte gezeigt haben. Ein weiterer Vorteil ist, dass NET vergleichsweise wenig Therapieabbrüche hat. Trotz der Intensität brechen nur wenige Patienten die Therapie vorzeitig ab, weil sie vermutlich den Sinn dahinter klar erkennen und von Sitzung zu Sitzung merken, dass es etwas leichter wird. Kritiker fragen allerdings, wie gut die Methode langfristig wirkt und wie sie sich in umfassendere Behandlungspläne integrieren lässt z. B. wenn neben PTBS noch andere Probleme wie Sucht vorliegen. Hierzu läuft noch Forschung. In der Praxis wird NET inzwischen oft als Teil eines Gesamtbehandlungsplans genutzt, kombiniert mit z.B. stabilisierenden Maßnahmen oder sozialer Unterstützung.

Zusammengefasst:

Die Narrative Expositionstherapie bietet einen niedrigschwelligen und effizienten Weg, Schwersttraumatisierten zu helfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Sie spricht in gewisser Weise eine universelle Sprache, die Sprache der eigenen Lebensgeschichte. Indem du dein ganzes Sein vom ersten Tag bis heute erzählst, verbindest du Vergangenheit mit Gegenwart und kannst hoffnungsvoller in die Zukunft schauen. NET ist freundlich ausgedrückt eine Reise durch das eigene Leben, begleitet von einem Profi, um die schlimmsten Kapitel neu zu ordnen und zu befrieden. Für viele Überlebende von Gewalt ist diese Methode ein Schlüssel, um aus der Erstarrung herauszukommen. Die Botschaft von NET lautet: Deine Geschichte verdient es, erzählt zu werden. Und du darfst am Ende stolz darauf sein, sie überlebt zu haben.