Alexithymie bezeichnet eine Störung der Affektverarbeitung, bei der betroffene Personen Schwierigkeiten haben, eigene Gefühle wahrzunehmen, zu benennen und in Worte zu fassen. Auch die Vorstellungskraft und die Fähigkeit, sich in andere Menschen emotional einzufühlen, sind häufig eingeschränkt. Der Begriff stammt aus der psychosomatischen Forschung und hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen Konzept in der klinischen Psychologie, Psychotherapie und Neurowissenschaft entwickelt.

Begriff und Ursprünge

Das Wort „Alexithymie“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich „ohne Worte für Gefühle“ (a = ohne, lexis = Wort, thymos = Gefühl/Seele). Der Begriff wurde in den 1970er Jahren von dem amerikanischen Psychiater Peter Sifneos geprägt, der bei psychosomatischen Patienten eine auffällige Einschränkung in der emotionalen Ausdrucksfähigkeit beobachtete.

Inzwischen wird Alexithymie nicht mehr ausschließlich im psychosomatischen Kontext betrachtet, sondern als transdiagnostisches Phänomen, das in vielen psychischen Störungsbildern sowie in der Allgemeinbevölkerung vorkommen kann. Sie gilt nicht als eigenständige psychische Störung, sondern als Persönlichkeitsmerkmal bzw. Dimension emotionaler Verarbeitung.

Merkmale und Symptome

Alexithymie äußert sich in einer Reihe charakteristischer Merkmale, die in psychologischer und klinischer Diagnostik systematisch erfasst werden.

Typische Merkmale alexithymen Erlebens

  • Schwierigkeiten, eigene Gefühle zu identifizieren  
    Betroffene empfinden innere Zustände häufig als diffus („Ich fühle mich komisch“) und können nicht klar benennen, ob es sich z. B. um Angst, Wut oder Trauer handelt.
  • Schwierigkeiten, Gefühle sprachlich auszudrücken  
    Es fällt schwer, über emotionale Erlebnisse zu sprechen oder diese zu beschreiben. Die Sprache bleibt häufig sachlich, nüchtern oder oberflächlich.
  • Eingeschränkte Fantasie und bildhaftes Vorstellungsvermögen  
    Die Fähigkeit zur inneren Imagination ist oft schwach ausgeprägt. Betroffene berichten seltener von Tagträumen oder inneren Bildern.
  • Extern orientiertes Denken  
    Gedanken kreisen stark um äußere, sachliche Details und weniger um innere Vorgänge oder zwischenmenschliche Bedeutungen.
  • Beeinträchtigte Empathie und soziale Interaktion  
    Schwierigkeiten, sich in andere Menschen einzufühlen oder emotionale Signale zu deuten, sind häufig. Beziehungen wirken dadurch distanziert oder konfliktreich.

Ursachen und Entstehungsbedingungen

Die Entstehung von Alexithymie ist multifaktoriell. Forschungsergebnisse deuten auf ein Zusammenspiel von genetischen, neurobiologischen und psychosozialen Einflüssen hin.

  • Frühkindliche Bindungserfahrungen: Fehlende emotionale Resonanz, Vernachlässigung oder Missbrauch können die Entwicklung emotionaler Wahrnehmungsfähigkeit hemmen.  
  • Traumatische Erfahrungen: Emotionale Überforderung in der Kindheit kann zur „Abschaltung“ emotionaler Wahrnehmung führen.  
  • Neurologische Faktoren: Studien zeigen Auffälligkeiten in Hirnregionen, die mit Emotionserkennung und -verarbeitung verbunden sind (z. B. Anteriorer cingulärer Cortex, Insula, Amygdala).  
  • Lerntheoretische Erklärungen: Emotionale Reaktionen wurden möglicherweise nicht verstärkt oder durch das Umfeld unterdrückt.

Alexithymie kann sowohl als stabile Persönlichkeitseigenschaft (primäre Alexithymie) als auch als Folge psychischer Belastungen oder Erkrankungen (sekundäre Alexithymie) auftreten.

Komorbiditäten und klinische Relevanz

Alexithymie tritt häufig in Zusammenhang mit psychischen und psychosomatischen Störungen auf. Sie ist nicht per se pathologisch, kann jedoch zur Aufrechterhaltung von Symptomen beitragen und die psychotherapeutische Arbeit erschweren.

Häufige Begleitphänomene

  • Depressionen: Alexithyme Personen berichten seltener über Gefühle, erleben aber körperliche Beschwerden oder Antriebslosigkeit.  
  • Angststörungen: Emotionen werden eher als körperliche Symptome erlebt, z. B. Herzrasen, Atemnot.  
  • Essstörungen: Hunger, Sättigung und Gefühle werden verwechselt. Essen dient der Affektregulation.  
  • Substanzmissbrauch: Alkohol oder Drogen werden als Ersatzstrategie zur Emotionsregulation eingesetzt.  
  • Persönlichkeitsstörungen: Besonders in Cluster-C-Störungen (z. B. zwanghafte oder ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung) finden sich alexithyme Merkmale.  
  • Psychosomatische Beschwerden: Kopf- und Bauchschmerzen, chronische Schmerzen oder Hautprobleme sind häufig, wenn Gefühle nicht benannt und verarbeitet werden können.

Diagnostik

Zur Messung von Alexithymie wird häufig das TAS-20 (Toronto Alexithymia Scale) eingesetzt – ein standardisierter Fragebogen, der drei Subskalen abbildet:

  1. Schwierigkeiten beim Identifizieren von Gefühlen  
  2. Schwierigkeiten beim Beschreiben von Gefühlen  
  3. Extern orientiertes Denken  

Ergänzend kommen Interviews, Verhaltensbeobachtungen und projektive Verfahren zum Einsatz. Wichtig ist die Abgrenzung zu Autismus-Spektrum-Störungen, sozialer Phobie oder emotionaler Abstumpfung infolge von Depression oder PTBS.

Auswirkungen auf Therapie und Beziehung

Menschen mit hoher Alexithymie erleben Therapie oft als herausfordernd, da emotionale Inhalte schwer zugänglich sind. Die therapeutische Beziehung kann erschwert sein durch:

  • geringe emotionale Resonanz  
  • rationalisierte Sprache  
  • reduzierte Motivation zur Selbstexploration  
  • Abwehr emotionaler Themen

Dennoch profitieren alexithyme Klient:innen langfristig von Therapie – insbesondere durch:

  • achtsame, validierende Gesprächsführung  
  • psychoedukative Elemente zur Emotionswahrnehmung  
  • nonverbale Ausdrucksformen (z. B. kreative Medien, Körperarbeit)  
  • explizite Struktur und Orientierung an konkreten Zielen  

Eine gute therapeutische Allianz ist entscheidend, um Vertrauen und emotionale Sicherheit aufzubauen.

Förderung emotionaler Kompetenz

Alexithymie gilt nicht als „unveränderlich“. Durch gezielte Interventionen kann die emotionale Ausdrucksfähigkeit verbessert werden.

Ansätze zur Verbesserung emotionaler Wahrnehmung

  • Achtsamkeitstraining: Wahrnehmung körperlicher Empfindungen als Zugang zu Gefühlen  
  • Gefühlstagebücher: tägliches Reflektieren über Situationen, Körperempfindungen und mögliche Gefühle  
  • b visuelle Hilfen zur Benennung von Gefühlen  
  • Rollenspiele und szenisches Arbeiten: Gefühle werden über Handlungen und Rollen erfahrbar  
  • Kunst- und Musiktherapie: Zugang zu affektiven Themen ohne Sprache
  • Mentalisierungsbasierte Therapie: Förderung der Fähigkeit, innere Zustände bei sich und anderen zu erkennen  

Ziel ist nicht, starke emotionale Reaktionen zu provozieren, sondern eine schrittweise Annäherung an affektive Inhalte zu ermöglichen.

Forschung und Neurowissenschaft

Neurowissenschaftliche Studien belegen, dass bei alexithymen Personen bestimmte Hirnareale in der Emotionsverarbeitung weniger aktiv sind – insbesondere die Insula und der präfrontale Kortex. Auch funktionelle Verbindungen zwischen limbischen Strukturen und sprachverarbeitenden Arealen sind beeinträchtigt.

Untersuchungen zeigen zudem, dass Alexithymie mit reduziertem Hautleitwert, niedriger emotionaler Ausdrucksstärke und einer geringeren Fähigkeit zur „emotionalen Empathie“ korreliert.

Trotzdem ist Alexithymie kein „emotionsloser“ Zustand – vielmehr ist es eine Störung im Zugang und der kognitiven Verarbeitung von Emotionen.

Fazit: Wenn Sprache für Gefühle fehlt

Alexithymie zeigt, wie zentral Sprache, Selbstwahrnehmung und Emotion miteinander verbunden sind. Das Unvermögen, Gefühle zu benennen, ist kein Zeichen von Kälte oder Gleichgültigkeit, sondern Ausdruck einer anderen Form innerer Organisation.

In der Psychologie und Psychotherapie erfordert der Umgang mit Alexithymie besondere Achtsamkeit, Geduld und kreative Herangehensweisen. Denn hinter dem Schweigen über Gefühle verbergen sich oft intensive innere Zustände – wartend darauf, erkannt und verstanden zu werden.