Mentalisierungsbasierte Therapie

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Die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) ist ein psychodynamisch fundiertes Verfahren, das in den frühen 2000er-Jahren von Peter Fonagy und Anthony Bateman entwickelt wurde. Ursprünglich für die Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen konzipiert, hat sich die Methode mittlerweile auch bei anderen psychischen Störungen etabliert – insbesondere bei Problemen im Bereich der Emotionsregulation, Selbstwertstörungen und interpersonellen Schwierigkeiten.

Zentrales Konzept der MBT ist die Förderung der Fähigkeit zur Mentalisierung – also der Fähigkeit, sich selbst und andere als Wesen mit inneren Zuständen wie Gedanken, Gefühlen, Bedürfnissen und Absichten zu verstehen. Diese Fähigkeit ist grundlegend für stabile Beziehungen, emotionale Regulation und ein kohärentes Selbstgefühl.

Theoretische Grundlagen der Mentalisierung

Mentalisierung ist ein entwicklungspsychologisches Konzept, das eng mit der Bindungstheorie verbunden ist. Es entwickelt sich idealerweise in einem sicheren Bindungskontext, in dem die Bezugsperson feinfühlig auf das innere Erleben des Kindes reagiert. Fehlen solche Erfahrungen, etwa durch Vernachlässigung, Traumatisierung oder instabile Beziehungen, kann die Fähigkeit zur Mentalisierung beeinträchtigt sein.

Eine gestörte Mentalisierungsfähigkeit äußert sich häufig durch affektive Überflutung, Impulsivität, Schwarz-Weiß-Denken, Misstrauen oder instabile Selbstbilder. Die MBT zielt darauf ab, diese Fähigkeiten systematisch (re)zuentwickeln – durch eine stabile, mentalisierende therapeutische Beziehung und gezielte Interventionen im Hier und Jetzt.

Die Bedeutung der Mentalisierungsfähigkeit in der Psychotherapie

Die Fähigkeit zur Mentalisierung wirkt als Schutzfaktor gegen psychische Störungen. Sie ermöglicht eine gesunde Selbstregulation, differenzierte Beziehungsgestaltung und den konstruktiven Umgang mit inneren Spannungen. Eine eingeschränkte Mentalisierung wiederum führt zu affektiven Instabilitäten, Fehlinterpretationen im sozialen Kontext und rigiden Denk- und Verhaltensmustern.

Die MBT arbeitet gezielt daran, in affektiv aufgeladenen Situationen die Perspektivübernahme zu stärken, Emotionen differenziert zu benennen und die Verbindung zwischen innerem Erleben und äußerem Verhalten herzustellen. Die therapeutische Haltung ist dabei neugierig, offen und validierend – mit dem Ziel, gemeinsam Bedeutung zu rekonstruieren, statt vorschnell zu interpretieren.

Struktur und Ablauf der MBT

Die Mentalisierungsbasierte Therapie ist manualisiert und strukturiert. Sie kann sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting erfolgen und umfasst typischerweise eine längere Behandlungsdauer (mindestens 12–18 Monate). Der Fokus liegt dabei auf aktuellen Beziehungserfahrungen, insbesondere auf der therapeutischen Beziehung, die als sicherer Rahmen dient.

Die MBT unterscheidet zwischen „hoher“ und „niedriger“ Mentalisierung. In Momenten starker emotionaler Aktivierung sinkt die Fähigkeit zur Mentalisierung typischerweise ab. Die therapeutische Arbeit setzt dann gezielt dort an – mit dem Ziel, in emotionalen Stresssituationen wieder eine reflektierende, selbstregulierende Haltung zu fördern.

Techniken und therapeutische Haltung

Die MBT ist geprägt von einer spezifischen therapeutischen Grundhaltung: Sie ist nicht interpretativ, sondern fragend, validierend und explorierend. Der Therapeut vermeidet vorschnelle Deutungen und bleibt stattdessen offen für alternative Sichtweisen, was Unsicherheit tolerierbar macht und den Denkraum des Gegenübers erweitert.

Typische Techniken umfassen:

  • Das Hinterfragen von Gewissheiten („Woher weißt du das?“)
  • Die Verlangsamung von Gesprächen in emotional aufgeladenen Momenten
  • Das gemeinsame Erkunden innerer Zustände
  • Die Reparatur von Mentalisierungsabbrüchen innerhalb der therapeutischen Beziehung

Ziel ist nicht das „richtige“ Verstehen, sondern die Rückkehr in einen mentalisierenden Modus – selbst in Momenten emotionaler Überflutung.

Mentalisierungsformen im Überblick

Typen von Mentalisierung und ihre Störungen

Ein zentrales Kapitel der MBT beschäftigt sich mit verschiedenen Formen der Mentalisierung – und deren Dysfunktionen:

  • Automatische vs. kontrollierte Mentalisierung
    Automatische Mentalisierung läuft intuitiv ab. Bei Überforderung bricht sie zusammen – dann ist gezielte, bewusste Reflexion notwendig.
  • Innengerichtete vs. außengerichtete Mentalisierung
    Die Fähigkeit, eigene innere Zustände zu verstehen, ist ebenso wichtig wie das Einfühlen in andere. Beide können selektiv gestört sein.
  • Kognitive vs. affektive Mentalisierung
    Kognitiv: Gedanken, Absichten verstehen. Affektiv: Gefühle differenzieren und benennen. Manche Menschen intellektualisieren, ohne emotional zu erfassen.
  • Realistische vs. pseudomentalisierende Haltungen
    Letztere wirken reflektiert, sind aber oft inhaltsleer oder vermeiden emotionale Berührung. Therapie zielt auf Authentizität und tieferes Verstehen.

Diese Unterscheidungen helfen, das Erleben der Klienten differenziert zu erfassen und gezielte Interventionen zu wählen.

Anwendungsbereiche und Wirksamkeit

Die MBT wurde ursprünglich zur Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen entwickelt und ist dort besonders wirksam belegt. Inzwischen findet sie auch Anwendung bei:

  • Narzisstischer oder histrionischer Persönlichkeitsstruktur
  • Komplexen Traumafolgestörungen
  • Depressionen mit Beziehungsmustern
  • Adoleszenten mit Selbstwert- und Impulsregulationsproblemen
  • In der Paartherapie und Eltern-Kind-Arbeit

Studien zeigen signifikante Verbesserungen in Emotionsregulation, Beziehungsgestaltung und sozialer Funktionsfähigkeit. Die MBT zählt mittlerweile zu den evidenzbasierten Verfahren bei Persönlichkeitsstörungen.

Abgrenzung zu anderen Verfahren

Die MBT unterscheidet sich von psychodynamischen Verfahren durch ihre klare Fokussierung auf das Hier-und-Jetzt der Beziehung. Sie verzichtet weitgehend auf Deutungen zugunsten einer reflexiven Exploration. Gegenüber kognitiven Verfahren arbeitet sie weniger mit inhaltlichen Gedanken, sondern mit der Art und Weise, wie Gedanken über sich und andere zustande kommen.

Gegenüber Verfahren wie DBT (Dialektisch-Behaviorale Therapie) oder Schematherapie liegt der Schwerpunkt nicht auf Emotionsregulation oder Modusarbeit, sondern auf dem Verständnis innerer Zustände. Damit ist sie besonders gut geeignet für Menschen, deren Selbstgefühl brüchig oder instabil ist.

Grenzen und Herausforderungen

Die MBT erfordert eine hohe Sensibilität für Beziehungssignale und Affektdynamik. Die Arbeit ist oft langsam, prozessorientiert und von Rückschritten geprägt. Therapeutinnen müssen mit Krisen, Spaltung und intensiven Übertragungen umgehen können – und dabei mentalisierungsfördernd bleiben.

Nicht geeignet ist die MBT bei ausgeprägten psychotischen Zuständen oder stark kognitiv beeinträchtigten Menschen. Hier sind stabilisierende, strukturierende Verfahren zunächst vorrangig.

Auch aufseiten der Therapeutinnen ist eine kontinuierliche Supervision und Selbstreflexion notwendig, um im mentalisierenden Modus zu bleiben – besonders in schwierigen Beziehungsmomenten.

Bedeutung und Perspektive

In einer Zeit, in der Beziehungskrisen, Selbstwertprobleme und emotionale Instabilität zunehmen, gewinnt die MBT an Bedeutung. Ihre Stärke liegt in der Integration von Beziehungsarbeit, Affektverstehen und Selbststrukturierung. Sie ist besonders geeignet für Menschen, bei denen traditionelle, symptomorientierte Verfahren an Grenzen stoßen.

Durch ihre fundierte theoretische Basis und empirisch belegte Wirksamkeit etabliert sich die MBT zunehmend auch im ambulanten Bereich und in multiprofessionellen Settings – etwa in Jugendhilfe, stationären Einrichtungen oder psychosomatischer Rehabilitation.

Fazit

Die Mentalisierungsbasierte Therapie ist ein tiefgreifender, beziehungsorientierter Ansatz, der Menschen dabei unterstützt, sich selbst und andere besser zu verstehen. Sie hilft, innere Zustände zu differenzieren, affektive Impulse zu regulieren und tragfähige Beziehungen aufzubauen. Ihre Wirksamkeit bei komplexen Persönlichkeitsmustern macht sie zu einem wertvollen Bestandteil moderner Psychotherapie – besonders dort, wo Sprache, Beziehung und Identität eng miteinander verwoben sind.